Inszenierte weibliche Frechheit

Inszenierte weibliche Frechheit: Autorinnenkörper in der österreichischen Literaturszene

Jeanne Verwee


Abstract

Auseinandersetzungen mit Geschlechterinszenierungen sind heute nicht mehr aus der literarischen Forschung wegzudenken. Während die Kontingenz von Geschlechteridentitäten mit Judith Butler theoretisch schon tief eingebürgert ist, werden literarische Texte von Autoren und Autorinnen immer noch unterschiedlich bewertet. In Auseinandersetzung mit Autorinnen findet man ein grundsätzliches Dilemma vor. Einerseits sind die Werke von Schriftstellerinnen nicht auf ihre (weibliche) Identität zu beschränken, sondern fordern eine ernsthafte ‘rein’ textuelle Interpretation. Andererseits ist zu bemerken, dass junge Schriftstellerinnen wie Lisa Eckhart, Stefanie Sargnagel und Lydia Haider gerade eine Interpretation ihrer Texte provozieren, die den Körper als Deutungselement einsetzt. Die Problematik um die öffentliche Sichtbarkeit von Autorinnen, mit denen man im heutigen Literaturbetrieb konfrontiert wird, ist anhand der Haltung von jungen Autorinnen der österreichischen Literaturszene gut nachzuverfolgen. Die Frage wird sich stellen, welchen weiblichen Körper genau sichtbar ist und wie dieser mit dem Text in den Dialog tritt.


Lebendige Autorinnen

Als Barthes in den 1960er-Jahren schreibt, der Autor sei tot, stirbt mit dieser Aussage ein männlicher Geniekult. Der zentrale Punkt Barthes’ Essays ist, dass ein Text sich nicht so sehr an die Intention eines Autors bindet, als dass er ein “Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur” ist, die sich der Botschaft eines übergeordneten Autors entzieht (Barthes 190). Damit wird die Individualität einer gottähnlichen Schöpferrolle, die nur Männern verkörpern konnten, zugunsten einer subjektlosen Bewertung von Literatur verabschiedet. Der Versuch Barthes’ zur Dekonstruktion einer Autorschaftsmythe führt in der feministischen Literaturwissenschaft zu einer Debatte um den Stellenwert der Autorin, wie sie Nancy Miller in ihrem Essay Wechseln wir das Thema/Subjekt. Die Autorschaft, das Schreiben und der Leser darstellt. Geschlecht als Kategorie für die Anerkennung eines Textes für bedeutungslos zu erklären, ist gleichzeitig ein Schritt in Richtung einer vermeintlich geschlechtsneutralen Literaturanalyse als auch eine Gefahr, Autorinnen immer noch zu vergessen. Auf der einen Seite liest sich Barthes’ Essay als eine den Feminismus unterstützende Kritik an die patriarchale Ordnung, in der nur Männer als Subjekte Bedeutung erzeugen können und als Autoren institutionalisiert werden, sodass Werken von Frauen und anderen Minderheiten-Schriftstellern ausgeschlossen bleiben. Auf der anderen Seite wird mit dem Verschwinden einer übergeordneten Subjektivität auch die weibliche Subjektivität unsichtbar gemacht, die als solche noch nicht institutionalisiert ist. Wie Miller argumentiert, hatten Frauen aber noch nicht die gleiche Möglichkeit zur Subjektwerdung: “Historisch gesehen steht Identität für die Frau nicht in jenem Verhältnis zu Ursprung, Institution und Produktion, das für die männliche Identität typisch ist. Deshalb fühlten sie sich (als Kollektiv) meiner Meinung nach noch nie durch zu viel Selbst, Ego, Cogito usw. belastet.” (Miller 255) Laut Mandy Dröscher-Teille führt diese Subjektlosigkeit zu einem Ungleichgewicht. Während männliche Autoren hinter ihre Texte zurücktreten können, werden weibliche Autorinnen mit ihrem Verschwinden aus der Literaturgeschichtsschreibung und gesellschaftlichen Diskursen gelöscht (Dröscher-Teille 59). Die Frage eine weibliche Autorschaft zu verbieten zugunsten einer ”monolithischen Gestalt anonymer Textualität“ (Miller 252), wäre also voreilig. Da das Universelle auch nicht-weiblich ist, wie Miller argumentiert, soll der Körper der Frau als Teil ihrer Subjektwerdung innerhalb eines Textmodells vordergründig werden (256).

Öffentlichkeit als Sichtbarkeit

Seit dem, was in den 90er-Jahren die ‘Rückkehr des Autors’ genannt wird, stehen Autorkonzepte und Autorinszenierungen erneut im Mittelpunkt der Forschung. Nicht zuletzt, weil der gegenwärtige Literaturbetrieb sich durch die Entwicklung des Internets und der sozialen Medien stark der Person der Autor*innen zuwendet. Instagram- und Twitter-Accounts, Blogs, Vlogs und Fernsehauftritten sind heute für die Positionierung im literarischen Feld bestimmend. Digitalität bietet dabei nicht nur ein zusätzliches, unverbindliches Hilfsmittel zum Erreichen eines Lesepublikums, sondern es ist fast unmöglich geworden, die immer als inszeniert wahrgenommene Autor*innenpräsenz zu umgehen: „Ging es mit Blick auf die älteren Autorengenerationen bisher vorwiegend darum, festzustellen, ob sie sich inszeniert haben, so steht bei der jüngeren Autorengeneration die Frage nach dem ‚Ob‘ kaum mehr zur Debatte, sondern es wird vielmehr nach dem ‚Wie‘ gefragt“ (Künzel 13). So trägt Elfriede Jelineks Rückzug aus der Öffentlichkeit ironischerweise sogar zu ihrer Bekanntheit und Kennzeichnung als Autorin bei. Diese Entwicklungen nutzen Verlagen und Autoren, indem sie anhand von personenbezogenen Darstellungen die Verkaufszahlen zu steigern versuchen. Es gilt, zu provozieren, zu skandalisieren und die Eigenheiten und Fähigkeiten von Autor*innen zu inszenieren, um so ihren Wert im literarischen Feld zu vermehren (Bressem 2).

Das impliziert, dass Autor*innen nicht nur mehr Texte brauchen, um auf das literarische Feld zu überleben: Schriftsteller*innen sollten in der Öffentlichkeit als leibhaftige Personen präsent sein. Das heißt, dass auch körperliche Aspekte wie Stimme oder Körperhaltung sowie Kleidung und typische Handlungen zum Markenzeichen von Autor*innen werden. Sie verkörpern jetzt ein Image, sind Teil einer Szene (Bressem 2). Obwohl Genette mit seinem Begriff des Paratextes schon einen ersten wesentlichen Schritt leistete, außertextuelle Elemente in die Interpretation eines Werkes zu integrieren, bleibt das Konzept immer noch auf dem Werk oder das Objekt ‚Buch’ beschränkt. Dahingegen wird in der ‘performative Turn’ darauf hingewiesen, dass gerade die Präsenz der Körper von Autor*innen in der Öffentlichkeit am wirksamsten Aufmerksamkeit erregt, sodass sie für eine Literaturanalyse unvernachlässigbar wird (Schröter 10).

Während diese Entwicklungen im Literaturbetrieb auf den ersten Blick den Autorinnen eine Möglichkeit bieten, als schreibende Frauen sichtbar zu werden, sollte man mit einer eindeutig positiven Bewertung solcher Entwicklungen vorsichtig sein. Es ist nicht die Absicht, dass die Auseinandersetzung mit dem literarischen Text aus dem Blick gerät. Für Autorinnen gibt es nämlich eine lange Tradition von Interpretationen, die ihre Werke fast ausschließlich auf ihren biografischen Körper reduzieren. Wie Mandy Dröscher-Teille zeigt, gab es da auch nach Barthes’ Essay eine unterschiedliche Behandlung zwischen Autor und Autorin: “Leistete das Diktum Barthes’ für den männlichen Autor eine partielle Auflösung der Verquickung zwischen Text und Autorschaft, so wurde in Bezug auf die Autorin die Verbindung von Autorinnenkörper und Text nie ganz aufgehoben.” (55) Der Text wurde ohne wesentliche Indikationen “in Form medialer Fremdinszenierungen und überformter autobiographischer Deutungen” (55) auf die Weiblichkeit der Autorin komprimiert. Auch heute wird Stefanie Sargnagel als künstlerisch tätige Frau in einem Interview eingeführt mit den Worten: “Diese Frau hat offensichtlich keine Kinder” („Jung Sterben“). Und in einer akademischen Arbeit von Helmut Göllner über junge Schriftstellerinnen wird es für notwendig gehalten, in Klammern zu erwähnen, dass “das Monster Lydia Haider” (Göllner 239) Mutter zweier Kinder ist, bevor sich eine Analyse ihrer literarischen Sprache zu widmen. Solche Aussagen sind Ausdruck einer Haltung gegenüber Autorinnen, sie nur als Körper wahrnehmen zu können. Das hat dazu geführt, dass die Kategorie der Autorin sich nie historisch entwickeln konnte (Dröscher-Teille 56). Anders gesagt, das Konzept der Sichtbarkeit soll für die feministische Literaturpraxis nuanciert werden. Das Problem war nie, dass Frauen nicht sichtbar sind. Nur bedeutet Sichtbarkeit nicht auch direkt Gleichheit, wie Peggy Phelan es in ihrem Buch über repräsentative linke Politik formuliert: “if representational visibility equals power then almost-naked young white women should be running Western culture” (10). Autorinnen wollen als weibliche Schreibende sichtbar sein, nicht lediglich als die Kategorie Frau, wie sie von Männern abgegrenzt wird.

Nuancierte Sichtbarkeit

Die Komplexität der weiblichen Sichtbarkeit im literarischen Feld lässt sich in zwei grundsätzliche Fragestellungen teilen. Zum einen stellt sich die Frage, welches Bild von Weiblichkeit genau sichtbar wird. Wenn weibliche Subjektivität und Körperlichkeit vordergründig werden sollte, dann sicherlich nicht als festgeschriebene Kategorie. Obwohl in der Theorie die Kontingenz von Geschlechteridentitäten mit Judith Butler unbestritten ist, sind Repräsentationen von Weiblichkeit oft noch Resultat einer männlich imaginierten symbolischen Ordnung. Es ist aber als Kategorie des Unrepräsentierbaren, als Kategorie der von der Ontologie Ausgeschlossenen, dass Subversion laut Judith Butler möglich ist (Hart 124). Dazu ist eine spielerische Haltung notwendig. Die Unrepräsentierbarkeit von Weiblichkeit kann in dem Maße dargestellt werden, als dass sie als ‘Effekt’ entlarvt wird. Wenn sich Weiblichkeit als eine Folge von Wiederholungen performativer Akte definiert, liegt die Subversion “in der Möglichkeit anderer Arten des Wiederholens, im Durchbrechen oder in der subversiven Wiederholung dieses Stils” (Butler 302). Die Aufführung von Weiblichkeit ist damit nicht als Festlegung, sondern als Durchbrechung und Relativierung von Weiblichkeitsbildern gedacht (Dröscher-Teille 65). Das Musterbeispiel dieses Spiels ist die Selbstinszenierung Madonnas. Während sie scheinbar maskulin-patriarchalischen Weiblichkeitserwartungen entspricht und damit Erfolg erzeugt, demontiert sie das erzeugte Bild zugleich, indem sie patriarchale Erwartungshaltungen gegenüber weiblicher Sexualität verunsichert (Schröter 92–3).

Aber nicht nur Popstars, auch junge Autorinnen wie Lydia Haider oder Lisa Eckhart widmen sich in ihrem öffentlichen Aussehen dieser Methode der spielerischen Konfrontation. Lydia Haider durchbricht gezielt Weiblichkeitsbilder, indem sie traditionell männliche Haltungen wie das breitbeinige Sitzen und Akte wie das Rauchen übernimmt. Auch zieht sie sich gerne teilweise wie ein rechtsextremer Nazi an, um dieses Bild dann mit ihrer restlichen Kleidung entgegenzuwirken (Göllner 240). „Feminismus heißt“, so die Autorin, „dass man als das was man vielleicht von vielen gesehen wird, nicht einlöst“ („Treffen“). Lisa Eckhart dahingegen überführt das Weibliche in das Klischeehafte, indem sie in „gewagten Outfits“ (Biedermann), die wie Lingerie aussehen, als eine Art femme fatale auftritt und so die Tendenz zur sexuellen Objektivierung anspricht. In der Inszenierung sowohl einer subversiven Durchbrechung als auch einer radikalen Bestätigung der Weiblichkeitsbilder, werden die Zuschauer*innen mit ihren Erwartungen konfrontiert. Die Leute sollen, in Haiders Worten, “sehen, dass sie blöd sind” („Hassen“). Auch im textuellen Bereich ist bei den Schriftstellerinnen eine solche ironische Haltung mit den von Männern geprägten Normen erkennbar. So stellt Lydia Haider 2020 den Sammelband Und wie wir hassen. 15 Hetzreden zusammen, welcher aus weiblichen Hetzreden besteht. Die Intention dessen ist, eine Männerdomäne zu besetzen und die Männer im Hassen zu übertreffen („Hassen“). In einer solchen weiblichen Gegenkultur, die sich mit einer spielerischen Wut ernsthaft gegen patriarchale Strukturen wehrt, kommt Weiblichkeit als historische, letztlich jedoch unfixierbare Kategorie zum Vorschein.

Die zweite Fragestellung, die den Begriff der Sichtbarkeit nuancieren soll, ist auf welche Weise der Körper zur Deutung eines Textes angebracht werden soll. Wie schon angedeutet, bedeutet der Wille zur Sichtbarkeit nicht zugleich, dass der Text auf die Selbstdarstellungen einer Autorin zurückgeführt werden sollte. Um zu vermeiden, dass der Text als Körper interpretiert wird, wird bei jungen Autorinnen der Körper als Teil des Textes aufgeführt, indem sie ihre Texte ‘performen’. Damit steht der Körper aktiv im Dienste des Textes, funktioniert als zusätzliches Deutungselement statt als passiver Referenzpunkt. So lässt sich sagen, dass der Körper in Performances sichtbar gemacht und im Werk eingesetzt wird, um nicht darauf beschränkt zu werden. Bei einer Performance sind sowohl Performer als Publikum leiblich anwesend. Deshalb erlauben Performances von Texten zusätzliche Sinneswahrnehmungen wie Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Interaktion mit dem Publikum, um den Prozess des Deutens zu steuern (Novak 55). Auch können bei der oralen Umsetzung eines schriftlichen Textes akustische Elemente hinzugefügt werden, die so nicht im schriftlichen Text beinhaltet waren und die Interpretation auf diese Weise erweitern (71). Die Grenze zwischen Text und dessen Aufführung zerfließt, sodass die Performance sich der reinen Repräsentation eines Vorgegebenen entzieht. Laut Vicky Bertram ermöglicht die Theatralität von Performances es für Frauen, ihren Körper öffentlich von Objektivierungen zu befreien, indem sie sie als aktive Elemente in den Prozess der Bedeutungsvermittlung integrieren (40).

Körperliteratur junger österreichischer Autorinnen

Obwohl bei vielen der jungen österreichischen Schriftstellerinnen, so wie Stefanie Sargnagel, Lisa Eckhart, Raphaela Edelbauer und Lydia Haider diese Tendenz zu Performance zu bemerken ist, kann der Körper dennoch auf unterschiedliche Weise als Deutungselement eingesetzt werden. Als ein Beispiel einer fast übersteigerten Weise, wie der Körper Teil einer Performance werden kann, gilt das Werk des enfant terrible der österreichischen Literaturszene Stefanie Sargnagel. Ihr Werk setzt sich nicht nur aus veröffentlichten Texten und Lesungen zusammen, sondern ist von den öffentlichen Skandalen, Social Media Posts und der zum Markenzeichen gewordenen roten Mütze untrennbar. Sie schreckt in ihren Texten nicht vor dem autobiografischen Ich und vor Genrevermischungen zurück, sodass letztendlich Text und Körper ineinander übergehen. So sehr sie aber eine autobiografische Interpretation provoziert, so stark verweigert sie sie auch: Indem Sargnagel das Faktuale mit dem Fiktionalem vermischt, sich widersprechende Fakten der Öffentlichkeit preisgibt, fiktionale Figuren aufführt als wären sie echt, und sogar öfters gesteht, dass sie nur eine Rolle spielt („Ang‘fressen“), ridikülisiert sie den Willen zur Fixierbarkeit ihrer Identität.

Anders funktioniert das Verhältnis zwischen Text, Körper und Identität bei der Autorin Lydia Haider. Während auch Haider in der Öffentlichkeit präsent ist, gibt es bei der Schriftstellerin und Musikerin der literarisch-liturgischen Band gebenedeit eine stärkere Trennung zwischen ihrer Privatperson und der Autorin. Erstens lässt sich sagen, dass Haiders Texte kein Ausdruck einer individuellen Identität sind. Im Unterschied zu Sargnagel, sind ihre fiktionalen Texte stärker mit von Haider unabhängigen Figuren ausgestattet, und die Erzählstimme, die in den Romanen kongregation und rotten nicht unzufälligerweise ein wir ist, ist nicht auf die Person Haider zurückzuführen. Trotzdem wird von Kritiker*innen oft versucht, Haiders Geburtsort Steyr an den Handlungsort des Textes zu verknüpfen (Jabłkowska 40). Zum zweiten will Haider auch in der Öffentlichkeit nur als Autorin erkennbar sein, was man davon ableiten kann, dass sie in Interviews nie von ihrem Mann, Kindern, Freunden oder sonstigen Privatsachen spricht. Es geht ihr lediglich um den Schaffensprozess ihrer Werke: die Themen, die Sprache, das Schreiben. Wenn bei der Diskussion des Ingeborch Bachmannpreises das Jurymitglied Philipp Tingler sich an die Autorin richten will, fasst er unabsichtlich den Kern der in dieser Arbeit aufgegriffenen Problematik zusammen: „Ich kann sie [Lydia Haider] nicht sehen auf meinem Monitor. Das ist leider immer das Problem bei der Lesung, dass man die Autorin so wenig sieht.“ Seine Frage an die Autorin, welches Anliegen der Text verfolgt, weigert sich Lydia Haider zu beantworten, was folglich eine Diskussion über die Autonomie des Textes zwischen den Jurymitgliedern auslöst. Das Video des Bachmannpreises ist kennzeichnend für ihre Herangehensweise: Die Autorin ist sichtbar auf dem großen Zoombildschirm, aber trotzdem schweigt sie, überschaut die Interpretationen, lässt den Text wirken. Ihr Schlusswort ist schließlich auch wieder ein Text („Tddl 2020 Lydia Haider Diskussion“).

Trotzdem bedeutet das nicht, dass Haiders Texte nur dazu da sind, gelesen zu werden und unabhängig vom weiblichen Körper Wirkung erzeugen. Im Gegenteil: Schreiben ist für die Schriftstellerin eine körperliche Angelegenheit. Nicht nur hat die Autorin ihr Bedauern darüber geäußert, dass die Leser*innen im Endprodukt des Textes die Materialität ihrer Handschrift nicht sehen können, auch ist das Hören von Musik für sie ein wesentlicher Bestandteil des Schreibprozesses („Literaturpreis“). Dazu bittet die Sprache von Haiders Texten darum, körperlich aufgeführt zu werden. Dass ein Satz sich in kongregation über 54 Seiten erweitern kann, ist nur, weil die mündliche Sprache in der Schrift gespiegelt wird, bei der die Pause einer Zeichensetzung meistens auch nicht hörbar ist. Da eine solche Sprache im schriftlichen Medium an seine Grenzen stößt, wird einen Eindruck der Atemlosigkeit erzeugt. Beeinflusst von Ernst Jandl, über den Haider eine Dissertation mit dem Thema rhythmischen Subversion schreibt, legt Haider großen Wert auf die eigene Aufführung der Texte. Die Autorin prüft das Geschriebene mittels Tonaufnahmen und ärgert sich über Kolleg*innen, die sich auf eine Lesung nicht vorbereiten („Ich schreibe“). So werden die Lesungen zu Performances, bei denen die Körperlichkeit zur Bedeutung des Textes beiträgt.

An dieser Stelle soll betont werden, dass die Körperlichkeit der Performances Haiders trotz Sichtbarkeit der Autorin auf den Text gerichtet bleibt. Wenn man Haiders Name bei Youtube eingibt, erscheint neben zahlreichen Interviews auch eine performative Lesung der Schriftstellerin im Zeichen der Andy Warhol-Ausstellung im mumok. Haider sucht im Video keinen Blickkontakt mit der Kamera, sondern fängt direkt an zu lesen, mit dem Körper eindeutig auf den Text gerichtet („Performative Reading“). Im Video des Ingeborch Bachmannpreises spielen die leichten Bewegungen im Raum sogar keine Rolle mehr, da die Schriftstellerin sitzt und nur mit der Stimme agiert („Tddl 2020 Lydia Haider Lesung“). Der Dialog, der in den Performances entsteht, ist einer zwischen Text und Körper, aber dieser Körper bleibt der Körper einer Schriftstellerin.

Die Frage stellt sich jetzt, wie der Dialog zwischen Text und Körper zu analysieren ist. Obwohl es für fiktionale Texte schwieriger auszumachen ist (Schröter 10), könnte man bei Lydia Haider behaupten, dass ihre Texte zur Selbstdarstellung der Autorin beitragen statt nur umgekehrt. Ihre Texte prägen sich durch einen eigenen Stil aus: In ihnen wird das Vulgäre mit dem Sakralen kombiniert, sodass eine Mischung zwischen Jugendsprache und biblischer Sprache entsteht. Der Text ist als Sprachgebilde in ähnlicher Wiese wie ihre Kleidung als feministisch zu verstehen, da Haider in dem kompromisslosen Vereinen von unvereinbaren Registern mit dem Anstand bricht, und gerade in der Durchbrechung der Erwartungen sprachstrukturelle Normen hervorhebt. Die Autorin kompliziert die repräsentative Funktion der Sprache, und schließt so an eine Definition von Feminismus an, die sich in ihren eigenen Worten „von der Zeit in der wir leben überhaupt nichts gefallen [lässt]“ („Treffen“). Auch der Plot bricht mit dem ständigen Ermorden der nicht stark ausgeprägten Figuren mit bürgerlichen Handlungsnormen einer literarischen Geschichte. Trotzdem kommen Haiders Texte in der Performance erst echt zurecht, wie auch die Jurymitglieder des Ingeborg Bachmannpreises letztendlich gestehen. In dem Anwenden von Stille und leichten Bewegungen im Raum, bringt Haider in ihrer Performance den Text zum Atmen. Was Helmut Göllner die “Rache an der Verschönerung und Humanisierung” (Göllner 225) in Haiders Texten genannt hat, wird in der oralen Aufführung erst recht verwirklicht, da hier die Hässlichkeit des Unvereinbaren in dem Anwenden von Pausen, Betonungen, Beschleunigungen und Verlangsamungen wiederum ästhetisiert wird. Der atemlose Text wird sozusagen zur Ruhe gebracht, sodass letztendlich die Hässlichkeit genießbar wird. Durch die Hörbarkeit, wenn man so will Spürbarkeit des Körpers der Schriftstellerin, wird das Lesepublikum Komplize der Verschönerung einer eigentlich unterdrückenden Sprache. Auf diese Weise wird der Körper in den Bedeutungsprozess eingesetzt, sodass letztendlich die Autorin sichtbar wird, als Frau, deren Körper unfixiert ist.


Jeanne Verwee ist Masterstudentin in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität Gent. Zu ihren Forschungsinteressen zählen Performanceliteratur, Neurodiversität, (weibliche) Autorität sowie Gegenwartskonzepten in der Literatur. Ihre Bachelorarbeit schrieb sie zum Konzept des Unheimlichen in der realistischen Gegenwartsliteratur, mit einem Schwerpunkt auf Kathrin Rögglas Nachtsendung.


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Picture: Unterstufenatlas, Lydia Haider, Schreibaufenthalt in Marokko 2018. CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.

 
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